
Astronomie der Ahnen: ohne Theorie
Astronomie als handwerkliche Praxis?
Auf den ersten Blick scheint die Astronomie nicht in die Welt des Handwerks zu passen. Doch ein Blick zurück auf die ursprünglichen Methoden der Himmelsbeobachtung offenbart eine enge Verbindung. Jahrtausendelang haben Menschen mit einfachsten Mitteln den Himmel studiert, die Bewegungen der Gestirne beobachtet und Muster erkannt. Ganz ohne ein theoretisches Fundament. Sie nahmen die Zeichen des Himmels genauso wahr wie das Wetter oder die Veränderungen der Jahreszeiten. In diesem Artikel möchte ich zeigen, wie sich Astronomie als praktische Tätigkeit begreifen lässt, bevor sie sich zu dem komplexen Theoriegebäude entwickelte, das wir heute kennen.
Atmosphäre und Horizontverzerrung
Natürlich fällt die Sternenbeobachtung bei wolkenverhangenem Himmel aus.
Selbst eine leichte Bewölkung macht Gestirne in Horizontnähe unsichtbar,
obwohl
der Himmel weit oben eine klare Sicht bietet.
Erschwerend kommt das Phänomen der Lichtbeugung hinzu: Man sieht die Sonne
noch abgeplattet über dem Horizont, kurz nachdem sie eigentlich
untergegangen ist: Die Atmosphäre zerrt die untergegangene Sonne herauf.
Für den vorzeitlichen Beobachter war also eine Kulisse mit freiem Horizont, zum
Beispiel auf See, gar nicht erstrebenswert. Man benötigt vielmehr eine
Horizontanhebung durch natürliche Bergketten oder durch eine selbst
gezimmerte Architektur zum Beobachten. Tatsächlich gibt es
deutliche Hinweise,
dass die vorzeitlichen Himmelsbeobachter freies Gelände mieden, und
stattdessen Berge aufsuchten.
Wie merkt man sich tausende zufälliger Lichtpunkte?
Die scheinbar zufällige Verteilung der Sterne am Himmel überfordert das
menschliche Gedächtnis. Auch eine Kommunikation über einzelne
Beobachtungen ist ohne eine klare Strukturierung des Nachthimmels
kaum möglich. Die Erfindung
von Sternbildern brachte die notwendige Ordnung in das scheinbare
Chaos.
Menschen verbanden vermutlich bereits in der grauen Vorzeit besonders
helle Sterne zu gedanklichen Formen, oft mit großer Fantasie.
Diese Formen dienten als Eselsbrücken, um bestimmte Konstellationen
wiederzuerkennen und sich über Beobachtungen auszutauschen.
Die Grenzen zwischen einzelnen Sternengruppen hätten theoretisch
völlig willkürlich festgelegt werden können. Doch Vergleiche mit
realen Flussläufen und Küstenlinien zeigen, dass Menschen den Himmel
als eine Art papierloses Notizbuch nutzten. Sie projizierten die
Topographien ihrer Handelswege dorthin, wo sie passende
Entsprechungen in den Sternbildern fanden.
Eine Orientierungshilfe für Sternengucker und zugleich eine
Gedächtnisstütze für Seefahrer: Sternbilder, die beiden Ansprüchen
gerecht wurden, hatten besonders gute Chancen, sich durchzusetzen.
Solche Konstellationen überdauerten oft Jahrtausende und wurden
tief im kulturellen Gedächtnis verankert.
Die Drehung des Sternenhimmels
Beobachtet man den Himmel über mehrere Stunden, wird deutlich, dass er sich in seiner Gesamtheit dreht. Ritzt man den Untergangspunkt eines einzelnen Sterns in einen horizontalen Holzbalken, bleibt diese Markierung über Monate, Jahre und sogar ein ganzes Leben hinweg gültig. Nur der Zeitpunkt des Untergangs verschiebt sich. Von Tag zu Tag passiert der Stern die Markierung etwas später, bis er erst in die Phase der Morgendämmerung und schließlich in den hellen Tag übergeht. Auch wenn man nun theoretisch weiß, wo der Stern untergehen müsste, bleibt er tagsüber unsichtbar.
Sternbilder als Kalender
Auf diese Weise ändert sich das Angebot an sichtbaren Sternbildern im Lauf der Jahreszeiten. Mit dem erstmaligen Auftauchen eines Sternes ließ sich darum ein Zeitpunkt im Kalenderjahr festlegen. Den genauen Ort, wo der Stern auftauchen sollte, brauchte man nicht suchen, denn die Markierungen an unserem horizontalen Holzbalken funktionieren für Aufgangspunkte genauso gut wie für Untergangspunkte. Diese Beobachtungen dienten einst als präziser Kalender. Besonders für bäuerliche Kulturen war das entscheidend: Aussaat und Ernte konnten am erstmaligen oder letztmaligen Auftauchen eines bestimmten Sternbilds ausgerichtet werden –unabhängig von den Schwankungen des Wetters.
Wie der Himmel sich mit der Reise verändert
Obwohl Menschen der Vorzeit die Kugelgestalt der Erde nicht kannten, erlebten sie ihre Auswirkungen: Händler und Reisende berichteten von neuen Sternbildern, die sie bei Reisen in den Süden sahen. Dadurch wurde klar, dass der Himmel nicht überall gleich aussieht. Ein ortsfester Beobachter konnte nur einen Ausschnitt des Himmels wahrnehmen, während jenseits seines Horizonts andere Sternbilder verborgen blieben.
die Ekliptik
Planeten sind auffällige Sonderlinge: Obwohl sie wie Sterne aussehen, folgen sie einem eigenständigen, dynamischen Muster. Manchmal stehen mehrere Planeten in einer Linie. Wenn kurz davor auch noch der Mond den bestimmten Himmelsbereich durchlaufen hat, fällt es einem Beobachter wie Schuppen von den Augen: Alle beweglichen Himmelskörper – Planeten, Mond und Sonne – bewegen sich entlang einer gemeinsamen Bahn, der Ekliptik. Dank den Sternbildern, die der Mensch zur Orientierung erschaffen hat, lassen sich die Himmelsregionen dieser Bahn sprachlich benennen: Wir kennen sie als die zwölf Tierkreiszeichen.
der Mond
Der Mond ändert nicht nur seine Gestalt, sondern durchmisst die Bahn der Ekliptik auch in schnellen Schritten. Er schafft jede Runde um 50 Minuten schneller als der Tag. Der Mond kopiert im Lauf eines Monats die Bahn der Sonne in einem Jahr. Die Vollmonde sind im Winter so hoch wie die Sommersonne, im Sommer dagegen steht der Vollmond tief über dem Horizont wie die Wintersonne. Die Kopie der Sonnenbahn ist jedoch nicht exakt, denn die Mondbahn ist um 5° gegen die Sonnenbahn geneigt. Wären die beiden Ebenen nicht leicht gekippt, hätten wir bei jedem Vollmond eine Mondfinsternis, und jedem Neumond eine Sonnenfinsternis. Und auch deswegen kann der Mond etwa alle 19 Jahre eine Extremposition einnehmen, die so weit nördlich oder südlich steht, wie es die Sonne nicht vermag. Diese Positionen spielen bei der Deutung der megalithischen Denkmäler eine Rolle.
rückläufige Planeten
Dass Planeten ihren Weg entlang der Ekliptik nicht immer geradeaus laufen, war für die Antike und das Mittelalter ein unerklärliches Rätsel. Heute ist es leicht anhand der Vorstellung zu verstehen, dass nicht nur der Planet seine Bahn zieht, sondern auch der Beeobachter mitsamt der Erde. Erst beide Bewegungen miteinander ergeben den Effekt eines Zuges, der gerade einen anderen überholt. Wenn du aus dem Fenster schaust, sieht es so aus als würde der andere Zug rückwärts fahren, obwohl er sich tatsächlich nach vorne bewegt.
im Blickwinkel der Jahrtausende (Präzession)
Hatte ich nicht gesagt, dass der Untergangspunkt
eines einzelnen Sterns in einem Menschenleben konstant bleibt?
Das stimmt, aber wenn Jahrtausende vergehen, ändern sich die Abläufe doch
ein wenig. Der Grund ist, dass die Rotationsachse der Erde nicht immer auf
den Polarstern weist, sondern über einen Zeitraum von
etwa 26.000 Jahren einen großen Kreis beschreibt.
Für einen Beobachter der Jahrtausende wirkt es, als reise er zwischen
Norden und Süden. Fremde Sternbilder erscheinen am Horizont, andere verschwinden.
So war das Kreuz des Südens während der Steinzeit in Deutschland
sichtbar, heute steht es auf der Südhalbkugel.
Eine zweite Konsequenz ist, dass die Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen
nicht immer im gleichen
Tierkreiszeichen stattfinden. Wir haben ja gelernt, dass ein
Tierkreiszeichen
eine Art Gradeinteilung auf der Ekliptik ist. Heute beginnen
Horoskope mit dem Widder, weil
die Sonne vor über 2.000 Jahren im Widder ihre
Frühlings-Tagundnachtgleiche hatte.
Mittlerweile ist der Frühlingspunkt um zwei Gradeinteeilungen, also
Sternbilder, zum Wassermann weitergezogen.
Eigenbewegung der Sterne

Über noch längere Zeiträume gesehen, führt jeder einzelne Stern ein Eigenleben. Durch ihre Position in unterschiedlichen Tiefen des Raumes gibt es schnellere und langsamere Wanderer unter den Sternen. Vergleicht man das Bild des Großen Wagens heute mit der 4.000 Jahre alten Himmelsscheibe von Nebra, ist von dieser langsamen Bewegung noch nichts zu sehen. Man muss schon zurück in die Altsteinzeit, um eine Veränderung zu bemerken.
"...und die Sonne stand im Zeichen des Löwen"
Doch eine Festlegung der Sonnenbahn kann nicht aus Tagesbeobachtungen
stammen, da die Sterne am Tag unsichtbar sind. Auch totale
Sonnenfinsternisse, bei denen Sterne in der Nähe der Sonne sichtbar wären,
sind viel zu selten, um systematische Daten zu liefern.
Dennoch finden wir den Tierkreis bereits in den ältesten Hochkulturen,
was darauf hinweist, dass die Beschreibung der Ekliptik bis in
prähistorische Zeiten zurückreicht.
Es muss also Methoden gegeben haben, die es ermöglichten, die Position der
Sonne im unsichtbaren Koordinatensystem der Tierkreiszeichen zu bestimmen.
Denkbar wäre, dass man die Sonnenbahn gedanklich in die benachbarten
Sternbilder der Dämmerung fortschrieb, oder Rückschlüsse zog aus
Mondfinsternissen,
die der Sonne stets genau gegenüberliegen.
Wie genau es geschah, bleibt unbekannt. Sicher ist jedoch, dass jedes
dieser Verfahren einen hohen Grad an astronomischem Wissen voraussetzte.
Weit mehr, als wir aus den erhaltenen Denkmälern rekonstruieren können.
nach welchen Ereignissen kann man sich richten?
Ein kurzes astronomisches Ereignis wie eine Mondfinsternis kann man
durch die Wolkendecke leicht
verpassen. Für unsere Vorfahren bedeutet das, je witterungsabhängiger ein
Beobachtung war, desto weniger war sie für die Menschheit von Belang.
Die sichersten Ankerpunkte im astronomischen Jahr waren daher die
Extrempunkte der Gestirne:
Sommer- und Wintersonnenwende, und die nördliche Mondwende. Solche
Fixpunkte sind besonders sicher festzustellen. Sie sind nicht nur an einem bestimmten
Tag zu beobachten (an dem es möglicherweise regnet), sondern praktisch
unverändert über mehrere Tage. Im Fall der Sommersonnenwende zum Beispiel
kann man davon ausgehen, dass sich der Aufgangspunkt der Sonne in der Woche
vor und nach der Wende nicht merklich ändert. Man hat also 14 Tage Zeit, die
Beobachtung auszuführen.
Aus diesem Grund sind Bauwerke wie Stonehenge auch nie als Kalenderbauwerke
gedacht, sondern als Sakralbauwerke. Zur Bestimmung eines genauen
Tages der
Sommersonnenwende sind megalithische Steinsetzungen nicht geeignet.
Bestimmung der Himmelsrichtung
Dass der Polarstern uns die Himmelsrichtung mitteilt, ist ein praktischer
Zufall. Doch in der Steinzeit lag die Richtung des Polarsterns noch weit ab
vom Norden. Es gab keinen Kompass, und die Bestimmung der Sonne in der
Mittagsstunde genau im Süden setzt eine Uhr voraus. (Auch heute würde es
nicht funktionieren, da die standartisierten Zeitzonen uns die
Mittagsstunde zur astronomisch gesehen falschen Zeit anzeigen.)
Man könnte einwenden, der Sonnenhöchststand zeige doch die rechte
Stunde an, doch in der Praxis hilft das nicht weiter: Wenn wir einen
Stab in den Boden stecken,
um den Sonnenlauf anhand des Schattens aufzuzeichnen, wirft die
Sonne einen diffusen Schatten. Zum anderen steigt und sinkt die Sonne
in einem stundenlangen Zeitraum rund um die Mittagszeit nur in geringem
Maße. Die kürzeste Schattenlänge ist also gar nicht exakt messbar.
Die Völkerkunde belegt ein genaueres Verfahren zur Bestimmung des
Höchststandes (und damit indirekt auch der Nordrichtung):
- Stecke einen Schattenstab senkrecht in den Boden.
- ziehe einen exakten Kreis um den Stab. Der Radius muss etwas länger sein als der kurze Schatten des Mittags.
- im Lauf des Vormittags wird die Spitze des Schattens irgendwo den Kreis berühren. Markiere diesen Punkt.
- Nach der Mittagszeit schneidet die Schattenspitze den Kreis ein zweites Mal. Markiere auch diesen Punkt.
- Die beiden Marken kennzeichnen die Ost-West-Linie.
- die Senkrechte zum Stab hin ist die Nord-Süd-Linie.
- Wolfhard Schlosser, Jan Cierny: Sterne und Steine. Eine praktische Astronomie der Vorzeit.